Der folgende Auszug aus Friedrich Schillers (1759–1805) Tragödie Maria Stuart (gedr. 1800, UA 1800) ist ein gutes Beispiel für den Dialog als die bestimmende Form der Figurenrede im Drama. Er ist dem 8. Auftritt des 5. Aufzugs entnommen, spielt sich also kurz vor der Katastrophe ab.
Das Stück selbst spielt 19 Jahre, nachdem Maria Stuart, die schottische Königin, nach England geflohen ist, da ihr in Schottland die Verschwörung gegen ihren ermordeten Gatten zur Last gelegt worden war. Von Elisabeth I., der Königin von England, erhofft sie sich Schutz. Diese lässt Maria Stuart jedoch inhaftieren, da die schottische Königin auch entfernte Ansprüche auf den englischen Thron für sich geltend machen kann (Maria Stuart entstammt ebenfalls der Familie Tudor, Elisabeth I. ist ihre Tante 2. Grades). Elisabeth I. fürchtet um ihren Thron. Das Stück spielt drei Tage vor Maria Stuarts Hinrichtung, deren Gründe sich aus dem Stück selbst ergeben. Während dieser Zeit wird über ihre vermeintliche Beteiligung am Gattenmord und ihren politischen Verrat an England verhandelt, jedoch kann sich Elisabeth erst gegen Ende des Stücks zu einem (Todes-)Urteil entschließen. Verschiedene Figuren im Stück ringen im Handlungsverlauf darum, ob sie sich Elisabeth oder Maria Stuart gegenüber loyal zeigen sollen und hadern damit, Maria Stuart zu befreien: so etwa Mortimer, der Neffe des Ritters Amias Paulet, der Maria Stuart bewacht, und der Graf von Leicester, der Maria Stuart und Elisabeth gleichzeitig liebt. Als alle Versuche scheitern, Maria zu retten, plant Mortimer ein Attentat auf Elisabeth. Dies scheitert jedoch durch einen übereifrigen Mitverschwörer. Als Mortimers Beteiligung aufgedeckt und er den Wachen ausgeliefert werden soll, ersticht er sich selbst, um der Gefangenschaft zu entgehen. Maria Stuart wird der Beihilfe und Mitwisserschaft bezichtigt, weshalb Elisabeth ihr Todesurteil unterschreibt (aber, um ihren Ruf und ihre Gewissen zu retten, die Aufsicht über die Vollstreckung an andere weitergibt). Das Stück endet mit der Hinrichtung Maria Stuarts, die abgeklärt, ihr Schicksal demütig akzeptierend und mit stoisch-königlicher Haltung, in den Tod geht, während Elisabeth zwar ihren Thron sichert, aber am Ende von all ihren Beratern (und Liebhabern) verlassen dasteht.
In der folgenden Szene ist der Richtspruch über Maria Stuart bereits gefällt und sie hat in der vorherigen Szene in der Beichte ihren Frieden mit sich, Elisabeth, Leicester und ihrem Schicksal gemacht. Sie teilt Burleigh, Leicester und Paulet ihre letzten Wünsche mit, um dann im 9. Auftritt den Weg zum Schafott anzutreten.
Dieser Dialog zwischen der zum Tode verurteilten schottischen Königin Maria, ihrem Hüter und Vertrauten Ritter Paulet und dem Elisabeth treu ergebenen Großschatzmeister Baron von Burleigh dient vornehmlich dazu, Maria vor ihrer Hinrichtung ein letztes Mal zu charakterisieren und als Kontrastfigur zu Elisabeth aufzubauen. Sie stellt die vorletzte Szene dar, in der wir Maria erleben, bevor sie zum Schafott geht. Über Rede und Gegenrede zwischen den Figuren, bei denen Maria das Gros der Beiträge übernimmt, wird deutlich, dass sie sich mit wahrhaft königlicher Würde und Haltung in ihr Schicksal fügt. Damit verkörpert sie in dieser Szene einen deutlichen Gegenpart zur englischen Königin Elisabeth: Mit der Vollstreckung des Urteils wird sie zwar ihre Herrschaft gesichert haben, mit ihren heftigen Zweifeln hinsichtlich des Urteils, ihren Intrigen, ihrem Mangel an Entscheidungsstärke und der Beschränktheit ihrer egoistischen Beweggründe fehlt es ihr jedoch an dem einer Königin würdigen Charakter, den Maria in dieser Szene gerade beweist.
Wie manifestiert er sich? Ganz abgesehen davon, dass wir keine Verzweiflung oder Ausbrüche von Angst über die bevorstehende Hinrichtung erkennen können, fällt auf, dass sich Maria in dieser Szene maßgeblich für das Schicksal anderer, nicht das eigene, interessiert: Burleigh begegnet sie mit höflicher Dankbarkeit („Dank, Milord!“), sie betrauert Paulets Verlust, den Tod seines Neffen Mortimers durch Selbstmord, („Ich hab’ euch schuldlos vieles Weh bereitet, / Des Alters Stütze euch geraubt“), erbittet freies Geleit für ihre Dienerschaft („Ich bitte, meine Diener ungekränkt / nach Schottland zu entlassen“) und wünscht sogar der Königin, die ihren Tod zu verschulden hat, mit „schwesterliche[m] Gruß“ „eine glückliche Regierung“. Mehr noch: Sie vergibt Elisabeth in voller christlicher Größe: „Daß ich ihr meinen Tod von ganzem Herzen / Vergebe, meine Heftigkeit von gestern / Ihr reuevoll abbitte“. Gerade der Verweis auf die Erregung des Vortages unterstreicht dabei Marias aktuelle Ruhe.
Diese Ruhe zeigt sich auch in der rhetorischen Gestaltung des Dialogs: Über verschiedene Antilaben wird deutlich (auch gut im Video zu erkennen), dass Maria nicht zögert und nicht lange überlegen muss, wenn sie antwortet. Ihre Antworten erfolgen i. d. R. unmittelbar und brechen in die Verse des Gegenübers, meist Burleighs, ein, teilweise unterbrechen sie den anderen Redebeitrag auch („Habt ihr sonst noch –“), worin sich gleichsam die unbeirrbare Stärke ihrer Haltung spiegelt. Der Hinweis auf den Dechanten, einen römisch-katholischen Priester, dessen Hilfe Maria, die als zeitlebens strenggläubige Katholikin bereits mit ihrem Gott versöhnt ist, nicht bedarf, unterstreicht diese Stärke ebenfalls: Sie besitzt sie im Glauben wie im Diesseits.
Die empathische Reaktion Paulets, der ihr am Ende die Hand drückt und ihr Gottes Segen mit auf den Weg gibt, verleiht Marias würdevoll-stoischer Haltung eine weitere Tiefendimension: Hierin wird deutlich, dass auch er sich der Wirkung, die von ihr ausgeht, nicht entziehen kann und mit ehrlicher Affektion auf sie reagiert.
Da sich das Innenleben der Figuren in einem Drama üblicherweise nicht über eine narrative Instanz vermitteln lässt, wie es z. B. im Roman der Fall ist, kommt dem Dialog hier eine besondere Bedeutung zu. Über die Figurenrede Marias, die sie in Reaktion auf Burleigh und Paulet äußert, und die hierzu passend von der Schauspielerin vermittelten nonverbalen Zeichen (siehe Video) erfahren wir überhaupt erst, was in ihr vorgeht.
Dass dieses Innenleben dabei nicht über einen aufgewühlten, langatmigen inneren Monolog, sondern in abgeklärten, kurzen und durchaus präzisen Redebeiträgen eines Dialogs erfolgt, unterstreicht die Charakterisierung Marias zusätzlich: Ein unkontrollierter Gefühlsausbruch, wie wir ihn bei einem Monolog an dieser Stelle vielleicht erwarten würden, ist angesichts von Marias Haltung ausgeschlossen. Sie weiß genau, was sie erwartet, wie sie auf ihr Schicksal blickt und was sie sich als ihre letzten Wünsche erbittet. Wird sie hierauf nicht angesprochen, ruht sie mit sich und ihrem Gott ganz (schweigend) in sich selbst.
Die Videoaufnahme folgt: Schiller, Friedrich: „Maria Stuart“. In: Ders.: Schillers Werke. Nationalausgabe. 43 Bde. Hrsg. von Julius Petersen/Gerhard Fricke. Weimar 1943ff. Bd. 9,1: Maria Stuart. Hrsg. von Nikolas Immer. Weimar 2010, S. 5–180, hier S. 167–168. |