Ein anschauliches Beispiel für eine Teichoskopie (auch: Mauerschau) findet sich in Friedrich Schillers (1759–1805) Werk über den Schweizer Nationalhelden Wilhelm Tell (gedr. 1804). Das Stück behandelt den Rütlischwur, den Nationalgründungsmythos der Schweiz, ebenso wie die Lebensgeschichte Wilhelm Tells mit dem Apfelschuss, der Gefangennahme durch Landvogt Gessler und schließlich dessen Tötung als Befreiungsakt durch Tell. Der folgende Ausschnitt mit der Teichoskopie ist der 1. Szene des 4. Aufzugs entnommen. In der vorangegangenen Szene (3. Szene, 3. Aufzug) hat Gessler Wilhelm Tell dazu gezwungen, seinem Sohn einen Apfel vom Kopf zu schießen, da Tell ihm, seiner Ansicht nach, nicht den nötigen Respekt erwiesen habe. Als Tell auf Drängen des Landvogts offenbart, warum er zwei Pfeile aus dem Köcher gezogen hat (hätte er den Apfel verfehlt und seinen Sohn getroffen, hätte er mit dem zweiten den Landvogt selbst erschossen), wird dieser von ihm inhaftiert. Er soll mit dem Schiff nach Küssnacht gebracht und dort eingekerkert werden. Die Teichoskopie vermittelt dem Publikum in synchroner Form, wie das Schiff in einem Sturm untergeht und Tell sich befreien kann.
Sowohl in der Textfassung als auch in der Bühneninszenierung (siehe Video) wird deutlich, dass es sich um eine parallele narrative Vermittlung des Geschehens und damit um eine Teichoskopie, nicht um einen Botenbericht handelt (wobei dies besonders schön im Video zu greifen ist).
Knabe und Fischer wissen vom Schicksal Tells und seiner Gefangennahme. Zu Beginn des Ausschnitts empört sich der Fischer noch über das Schicksal Tells („Wer wird hier leben wollen ohne Freiheit!“, „Zu zielen auf des eignen Kindes Haupt“). Mit dem Läuten der Glocke („man hört lauten“) wird der Fokus auf das Schiff gelenkt („Vater, ein Schiff, es kommt von Flüelen her.“), dessen Notlage bereits vom Fischer angedeutet wird („Gott helf den armen Leuten! Wenn der Sturm“). Auf der Bühne selbst wird dabei kein Schiff gezeigt, das Publikum kann nur mittelbar über den Dialog zwischen Knabe und Fischer erfahren, was sich im Einzelnen zuträgt und wie das Schiff in den Sturm gerät. Was dabei wesentlich ist: Durch den Aufbau der Szene wird deutlich, dass hier kein nachträglicher Bericht gegeben wird, sondern beides parallel stattfindet. Bühnentechnisch ist es so gemacht, dass sich das Geschehen hinter einer Anhöhe vollzieht (die hier die Funktion der ‚Mauer‘ übernimmt), über die die Figuren hinwegsehen können, der Zuschauer aber nicht.
Der Knabe, der zuerst auf die Anhöhe hinaufsteigt, berichtet dem Fischer vom Geschehen („Vater, ein Schiff, es kommt von Flüelen her.“). Dieser steigt kurz darauf ebenfalls hinauf, wonach sie im erregten Dialog miteinander das Geschehen mittelbar ans Publikum weitergeben („Es ist das Herrenschiff von Uri, Vater,“, „Gerichte Gottes! Ja, er ist es selbst, / Der Landvogt“). Besonders intensiv wird diese Darstellung kurz vorm Aufritt Wilhelm Tells: „Sieh, sieh, sie waren glücklich schon vorbei / Am Buggisgrat, doch die Gewalt des Sturms, / Der von dem Teufelsmünster wiederprallt, / Wirft sie zum grossen Axenberg zurück.“, „Dort ist das Hakmesser, / Wo schon der Schiffe mehrere gebrochen. / Wenn sie nicht weislich dort vorüberlenken, / So wird das Schiff zerschmettert an der Fluh“. Dies spiegelt sich auch anschaulich im erregten Spiel der Darstellerinnen auf der Bühne.
Dass die Ereignisschilderung hier zeitgleich auf der Bühne stattfindet, zeigt sich zudem in der weiteren Szenengestaltung, in der die Mauerschau fließend in den Auftritt Wilhelm Tells übergeht: Aus dem sturmgepeitschten Gewässer, das der Zuschauer nicht sehen kann, da es hinter der Bühne liegt, kommt der befreite Tell auf die Bühne gelaufen, wo er von Knabe und Fischer schließlich erkannt wird. Das Ende der Mauerschau und Tells Auftritt fallen perfekt ineinander: „Ich bin befreit“. Die Notwendigkeit für den Einsatz einer Teichoskopie leuchtet an dieser Stelle unmittelbar ein: Ein Schiff im Sturm, das an den Felsen zu zerschellen droht, ist bühnentechnisch nur schwer umsetzbar und narrativ besser zu vermitteln. Dass hier eine Teichoskopie statt eines Botenberichts verwendet wird, steigert dabei nicht nur wesentlich die Spannung, es eröffnet auch die Möglichkeit, die Flucht im Sturm und Tells Bühnenauftritt elegant miteinander zu verweben.
Die Videoaufnahme folgt: Schiller, Friedrich: „Wilhelm Tell“. In: Ders.: Schillers Werke. Nationalausgabe. 43 Bde. Hrsg. von Julius Petersen/Gerhard Fricke. Weimar 1943ff. Bd. 10: Die Braut von Messina. Wilhelm Tell. Die Huldigung der Künste. Hrsg. von Siegfried Seidel. Weimar 1980, S. 224–229. |